Das schönste Fahrrad der Welt
Eine Weihnachtsgeschichte von Rüdiger Janson
Das Jahr neigt sich dem Ende, die Tage werden kürzer. Weihnachtlicher Lichterglanz säumt die Straßen der Stadt. Es ist die Zeit, in der viele Wünsche und Träume in Erfüllung gehen. Es ist die Zeit, in der in jedem Fenster, in jeder Wohnung und an jedem Haus weihnachtliche Dekorationen um die Wette leuchten. Auch die Schaufenster in der Stadt sind reichlich geschmückt und überall in den Straßen und Geschäften erklingen sanfte weihnachtliche Lieder.
Männer in roten Gewändern mit weißen Bärten, verteilen Gebäck und Süßigkeiten. Es ist auch die Zeit, in der Kinder, Wunschzettel ans Christkind schreiben und sie, in der Hoffnung auf Erfüllung ihrer Träume, auf die Fensterbank legen. Steven Schmidt ist zwölf Jahre alt. Er glaubt nicht mehr an das Christkind. Aber dennoch erhofft er sich die Erfüllung seiner Wunschträume. Begeistert steht er in einem Geschäft und bewundert mit seiner Familie ein Mountainbike, mit 24 Gängen. So ein tolles Fahrrad wünscht er sich zu Weihnachten. Und so viel Gänge wie dieses, muss es schon haben, denn sein Freund Bernd bekommt auch eins, und das hat bestimmt 21 Gänge. Auffallend lange steht er vor dem Fahrrad und demonstriert somit seinen Wunschtraum.
nbsp;
Aber auch seine Geschwister und seine Eltern haben Wünsche. Seine zwei Jahre ältere Schwester Anne möchte sich neu einkleiden, wie sie selbst immer sagt. Da ist natürlich das Beste gerade gut genug. Sie braucht diese Kleider für die Schule. Sein siebzehnjähriger Bruder Michael möchte einen neuen Drucker für seinen Computer. Ein Freund hat ihn neulich wegen seines völlig veralteten Druckers ganz schön hochgenommen. Vater braucht einen komplett eingerichteten Werkzeugkasten. Damit er nicht immer bei seinem Nachbarn Werkzeug ausleihen muss. Mutter möchte dieses Jahr Schmuck. Jedes Familienmitglied gibt deutlich zu verstehen was man sich dieses Jahr zu Weihnachten wünscht.
So kommt es, dass diese Jahreszeit die Herzen der Familie Schmidt nicht nur mit Hoffnung und Freude, sondern auch mit Sorge erfüllt. Es sollte schon das richtige Geschenk zu Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum liegen. Die Großmutter allerdings, schaut dem Treiben nur lächelnd zu. Als sie noch ein Kind war, gab es nicht so tolle Dinge wie heute. Damals war Krieg in Deutschland. Die Menschen waren sehr arm. Sie konnten sich noch an den kleinen und einfachen Dingen des Lebens erfreuen. Großmutter wird nie vergessen, wie sie einmal zu Weihnachten ein paar Lackschuhe geschenkt bekam. Ihre Enkel können nicht verstehen, dass sie heute noch immer davon spricht. Einen Tag vor Heiligabend liegt Steven in seinem Bett und träumt von seinem Mountainbike mit 38 Gängen. Oder sollten es doch nur 24 sein? Na ja, denkt er, wenn es nur ein paar Gänge mehr hat als das neue Rad das Bernd bekommt. In dieser Nacht schlafen alle recht unruhig. Der Gedanke, dass sie etwas vergessen haben, lässt sie nicht so recht zur Ruhe kommen. Aber sie träumen auch von ihren Geschenken, die sie nun bald bekommen werden.
In Stevens Traum wird sein Fahrrad immer moderner und besser. Es steht vor ihm und er ist sicher; dies ist das beste Fahrrad der Welt. Steven steigt auf und fährt los. Doch das Fahrrad entwickelt plötzlich ein seltsames Eigenleben. Es lenkt wohin es will, und es regelt auch die Geschwindigkeit selbst.
“Was ist denn nun los?”, schreit Steven.
“Hab’ keine Angst”, hört er jemanden sagen. “Ich will dir etwas zeigen.”
Steven dreht sich um und traut seinen Augen nicht. Hinter ihm sitzt ein alter Mann mit einem langen weißen Bart, auf dem Gepäckträger.
“Wer bist du?”, fragt Steven.
“Oh, ich bin der Weihnachtsmann”, antwortet der Alte.
“Es gibt keinen Weihnachtsmann, und auch kein Christkind”, antwortet Steven aufgeregt. “Die Geschenke kaufen immer meine Eltern.”
Der Weihnachtsmann lacht und meint: “Ich schenke auch nur denen etwas, die meine Geschenke wirklich benötigen. Komm einfach mal mit und schau mir bei der Arbeit zu. Vielleicht verstehst du mich dann etwas besser.”
Steven will abspringen, doch der Weihnachtsmann meint, dass das nichts nützt, denn ob er auf dem Sattel sitzt oder nicht, die Reise muss er so oder so mitmachen. Steven ist aufgeregt. Er will nach Hause. Ist das nun ein Traum, oder ist es Wirklichkeit. Seine Großmutter hat ihm einmal gesagt, dass in der Weihnachtszeit manchmal wunderliche Dinge geschehen. Er hat das immer nur für Spinnerei gehalten. Sollte vielleicht doch etwas Wahres dran sein? Das Fahrrad wird immer schneller. Die Landschaft verwandelt sich in ein Meer von Licht und Farben. Nach einiger Zeit kommt es zwischen weißen Wolken, irgendwo in einem anderen Universum, und in einer anderen Dimension, zum Stehen.
“Von hier aus kannst du die Erde auf eine Weise sehen, wie es keinem anderen Menschen zu Lebzeiten vergönnt war”, meint der Alte.
Steven kann von hier aus alles sehen, was er will. Er schaut den Menschen zu, wie sie in den Geschäften umherlaufen, und die letzten Geschenke kaufen. Er steigt vom Fahrrad ab und setzt sich auf eine kleine Wolke.
“Ja, in dieser Zeit versorgen sich die Menschen selbst”, meint der Weihnachtsmann mit leiser gedrückter Stimme. “Eigentlich habe ich ja nichts gegen Geschenke. Sie bereiten Freude, und sie machen das Fest zu etwas besonderem. Eigentlich hat die menschliche Strebsamkeit nur einen Sinn; die Menschen wollen alle nur geliebt und geachtet werden. Darin liegt auch der Sinn des Weihnachtsfestes. Es ist das Fest der Liebe und der Freude. Aber um Liebe empfinden zu können, muss man auch Liebe geben können. Wer Liebe geben kann, der kann auch das Weihnachtsfest richtig genießen.”
Steven schaut den Alten fragend an. Er versteht ihn nicht so recht. Für ihn war Weihnachten immer mit einer unglaublichen Vorfreude an seine Geschenke verbunden. Etwas anderes kannte er bisher nicht. Also was meint der Alte bloß mit seinem Gerede?
“Ich verstehe nicht so ganz wie du das meinst, Weihnachtsmann”, fragt Steven.
“Steig auf, ich zeig dir noch mehr, vielleicht verstehst du mich dann besser”, befiehlt der Weihnachtsmann.
Steven folgt bereitwillig. Und noch einmal braust das Fahrrad, mit Steven auf dem Sattel und dem Alten auf dem Gepäckträger, davon. Steven kann wiederum nur Lichter und Farben erkennen. Nach einer Weile wird das Fahrrad wieder langsamer. Steven erkennt eine große weiße Villa mit einem ungeheuer großen und beeindruckend schönen Freizeitpark. Auch ein Swimmingpool und ein Zoo gehören dazu.
“Siehst du?”, fragt der Alte. “Da unten lebt ein Junge in deinem Alter. Er hat alles, was er sich nur wünschen kann. Ich würde ihm gerne etwas schenken, doch er glaubt nicht an mich, also gibt es mich auch nicht. Und wenn es mich nicht gibt, kann ich ihm auch nichts schenken. Weihnachten ist für ihn kein besonderes Fest. Geschenke machen ihm keine Freude, und das schöne weihnachtliche Gefühl ist ihm fremd. Ich würde ihm gerne etwas schenken, wenn ich könnte.”
“Was willst du ihm denn schenken?”, fragt Steven neugierig. “Er hat doch schon alles. Und was meinst du mit weihnachtlichem Gefühl? Und was hat das mit den Geschenken zu tun? Und wieso gibt es Dich nicht wenn man nicht an Dich glaubt.”
Doch der Alte antwortet nicht. Steven sieht, wie ein Butler den Weihnachtsbaum schmückt. Für die Familie ist das nichts besonderes. Die paar albernen Kugeln können ihre Herzen nicht erfreuen. Ein paar Straßen weiter erkennt er eine Familie, die seine eigene sein könnte. Steven schaut ihnen bei den Vorbereitungen zu. Sie schmücken den Baum selber, aber in ihren Gesichtern ist kaum Freude zu erkennen. Man sorgt sich darum, dass der Weihnachtsbaum vielleicht nicht schön genug ist, und auch der Baumschmuck wird dauernd verändert. Kritisch steht die Familie vor dem Baum und berät, was man noch besser machen kann. Diese Familie ist zwar nicht reich, aber auch bei ihnen fehlt das weihnachtliche Gefühl, das der Weihnachtsmann Steven vermitteln will. Es ist, wie in seiner eigenen Familie. Niemand erinnert sich an die Geschichte, die dieses Fest erzählen will. Steven spürt immer deutlicher, was der Weihnachtsmann ihm vermitteln möchte. Der Weihnachtsmann redet nicht mehr viel. Das ist auch kaum nötig, denn Steven beginnt zu begreift was dort unten auf der Erde vor sich geht. Das Fahrrad wird wieder schneller. Die Landschaft um ihn herum verwandelt sich abermals. Erneut rast er mit dem Fahrrad, in ungeheurer Geschwindigkeit, durch das unbekannte Universum. Dann kommt es, wie zuvor, in einer unbekannten Gegend zum Stehen.
“Jetzt kannst du sehen wie ich schenken werde”, meint der Weihnachtsmann.
Steven wundert sich. Der Alte hat doch gar keine Geschenke dabei.
“Was ist das Kostbarste auf der Welt?”, fragt der Alte geheimnisvoll.
“Das Kostbarste”, wiederholt Steven fragend. Er überlegt kurz, dann antwortet er: “Na Gold, Silber und Edelsteine natürlich.”
“Oh ja”, lacht der Weihnachtsmann. “Für euch Menschen ist das Kostbarste immer der Reichtum. Aber was ist für Gott das Kostbarste? Ich will es dir sagen. Es gibt sehr viel Gold und Silber auf der Welt, doch wie viele reine Seelen gibt es? Es ist egal ob du in deinem Leben ein Schwarzer warst oder ein Weißer, ein Chinese oder ein Indianer, ein Eskimo oder ein Buschmann. Alle Menschen sind gleich, ob arm oder reich. Du findest überall gute oder schlechte Menschen. Hier jedenfalls gibt es eine Familie die ihren Glauben noch nicht verloren hat. Sie kann noch zuhören, wenn Geschichten erzählt werden.”
Steven schaut erneut einer Familie bei den Weihnachtsvorbereitungen zu. Der Vater geht in den Keller des Hauses und kommt wenig später mit einer Kiste wieder rauf. Die vier Kinder freuen sich sehr, denn nun wird der wunderschöne Weihnachtsschmuck ausgepackt. Sie behandeln ihn wie einen kostbaren Schatz den sie gerade irgendwo gefunden haben. Die Kinder erfreuten sich noch an duftenden Gebäck, Bratäpfeln oder Mutters Geschichten, die sie in der Adventszeit den Kindern immer erzählte. In ihren Gesichtern ist große Hoffnung, Glaube und Freude zu erkennen. Sie glauben an mehr als an das, was sie sehen können. Für sie ist Weihnachten noch ein Fest der Liebe. Sie singen mit großer Freude und Ehrfurcht ihre Weihnachtslieder. Dem reichen verwöhnten Jungen gingen sie nur auf die Nerven, und bei der anderen Familie war ein Weihnachtslied am Heiligabend Pflicht. Vorher durfte man nicht an die Geschenke rann. Und so leierte man schnell ein Lied runter. Dann blieb zum Nachdenken keine Zeit mehr. Hier ist das anders, man singt die Lieder noch aus voller Überzeugung und mit großer Freude. Steven sieht, wie ein kleines Mädchen sich ungeheuer über ein paar weiße Lackschuhe freut, die es geschenkt bekommen hat. Er schaut das kleine Mädchen mit großen Augen an. Der Weihnachtsmann bestätigt schließlich seine Vermutung. Er sieht seine eigene Großmutter als diese noch ein Kind war, und er fühlt ihre Freude über das Geschenk. Andächtig sitzen die Kinder vor dem Weihnachtsbaum und singen mit ihren Eltern Weihnachtslieder. Nach der Bescherung singt bei uns keiner mehr, denkt Steven. Nun sieht er auch, was der Weihnachtsmann ihnen schenkt. Er segnet jeden in der Familie und sogar das Haus in dem sie Leben. Dann meinte er, dass das die einzigen Geschenke sind, die er bei sich trägt.
“Wo fahren wir jetzt hin?”, will Steven wissen, und der Weihnachtsmann antwortet:
“Zu dir nach Hause, mir tut der Hintern weh. Weißt du, ich bin sonst immer mit einem Schlitten unterwegs. Der ist wesentlich bequemer als der Gepäckträger deines Fahrrades.”
Steven denkt nach. Er traut sich nicht zu fragen. Sollte dieses Fahrrad wirklich sein Weihnachtsgeschenk sein. Nein, er fragt lieber nicht. Vielleicht wäre der nette alte Mann dann von ihm enttäuscht. Plötzlich wird Steven von jemanden gerüttelt.
“Willst du nicht aufstehen du Schlafmütze?”, fragt die Mutter. “Heute ist Heiligabend und es ist schon halb Zehn.
Es war nur ein Traum, denkt er. Beim Frühstück erzählt die Großmutter wieder von ihren Lackschuhen, die sie einmal geschenkt bekam, und die sie heute noch hat. Niemand nimmt die alte Frau noch ernst, doch Steven fragt, ob er sie einmal sehen kann. Es ist das erste mal, dass jemand nach den Lackschuhen fragt. Die Großmutter rennt, so schnell sie noch kann, auf den Dachboden. Steven folgt ihr und beobachtet, wie sie andächtig eine Kiste öffnet. Dort hat sie all ihre Erinnerungen an frühere Zeiten aufbewahrt. Die Schuhe sind in Tücher gewickelt. Steven beobachtet wie seine Großmutter sie vorsichtig enthüllt. Es scheinen die gleichen Schuhe zu sein, wie er sie in seinem Traum sah. Als er ihr von seinem Traum erzählt, meint sie mit geheimnisvoller Stimme:
“Kleine Wunder geschehen oft, ohne dass wir sie als solche erkennen.”
Der Heiligabend verläuft so wie immer. Keiner verschwendet auch nur einen Gedanken an das Wesentliche dieses Festes. Dazu fehlt auch in Stevens Familie die Zeit. Vater ist ganz und gar mit seinem reich ausgestatteten Werkzeugkoffer beschäftigt. Jedes einzelne Werkzeug nimmt er liebevoll in die Hand und prüft es auf dessen Funktionstüchtigkeit. Mutters Kollier ist wunderschön. Sie sagt dauernd, dass Vater doch nicht so viel Geld hätte ausgeben müssen. Obwohl sie doch recht froh ist, dass er es doch getan hat. Anne prüft kritisch ihre neuen Kleider. Hoffentlich reicht das aus um ihre Freundinnen in der Schule zu beeindrucken. Sie eilt in ihr Zimmer um die neuen Sachen anzuprobieren. Wenn sie nicht passen, müssen sie nach Weihnachten umgetauscht werden. Michael ist voll ganz in sein Druckerhandbuch vertieft. Seine einzige Sorge ist jetzt diesen Drucker anzuschließen und ihn zum laufen zu bringen. Auch er taucht erst wieder auf, als die erste Erfolgsmeldung aus seinem neuen Gerät erscheint. Als alle Sorgen und Nöte beseitigt und besprochen sind, begibt man sich an den reich gedeckten Tisch, auf dem ein Gänsebraten darauf wartet verspeist zu werden. Ein Dankeschön war eigentlich von keinem so richtig zu hören. Warum auch? Es ist doch Weihnachten. Da muss man doch reich beschenkt werden. Steven schaut dem weihnachtlichen Treiben nachdenklich zu. Großmutter sitzt still und lächelnd in einer Ecke. Woran mag sie jetzt wohl denken? Der Weihnachtsmann hatte recht; auch in seiner Familie denkt niemand an die Geschichte, die dieses Fest zu erzählen hat, außer Großmutter vielleicht. Aber Steven freut sich natürlich trotzdem über sein Weihnachtsgeschenk. Das Mountainbike hat 21 Gänge und ist auch sonst recht schön. Es ist nicht mit dem zu vergleichen das er im Traum sah, aber er ist mehr als zufrieden. Am nächsten Morgen kommt sein Freund Bernd und zeigt ihm sein neues Rad.
He Steven”, ruft er schon von weitem. “Mein neues Rad hat 18 Gänge, und wie viel hat deines?”
Steven schwindelt ein wenig. Der Weihnachtsmann ist bestimmt nicht böse darüber.
“Mein Rad hat auch 18 Gänge”, meint er
Bernd hat nie bemerkt, dass Steven geschwindelt hat. Er wundert sich nur, dass Steven sein Rad so sehr pflegt.
“Du hast das Rad bestimmt noch in 50 Jahren”, meint Bernd verständnislos.
“Vielleicht hast du sogar recht”, antwortet Steven geheimnisvoll und putzt weiter an seinem schönen neuen Rad.
Es ist für ihn das schönste Fahrrad der Welt.
* * *
Ende
* * *
Danke an den Autor Rüdiger Janson